noa

Man sagt, sie sitzt.
Aber niemand weiß, wie lange.
Oder warum sie sich nie hinsetzt, sondern immer schon da zu sein scheint.

Noa spricht nicht.
Nicht, weil sie nichts zu sagen hätte.
Sondern weil sie weiß, dass Worte nur Gedanken mit Schuhen sind –
und sie geht lieber barfuß.

Sie hat keine Adresse.
Aber jeder, der sie sieht, glaubt kurz, er habe sie schon mal getroffen.
Meistens in Momenten, in denen niemand etwas gesagt hat,
aber alle etwas gespürt haben.

Sie riecht nach Buchseiten, die nie veröffentlicht wurden,
und nach Kaffee, der noch warm ist, obwohl niemand ihn gemacht hat.
Ihr Schatten ist weich,
aber er fällt immer exakt dorthin, wo man sich selbst übersieht.

Niemand weiß, ob sie arbeitet.
Aber es gibt Zeichen.
Zeilen.
Gedanken wie Bleistiftlinien.
Striche, die nicht korrigiert wurden – weil sie von Anfang an richtig lagen.

Es heißt, sie fotografiert nicht.
Sie erinnert.
Und manchmal sehen die Bilder aus wie deine eigenen,
nur aus einem Winkel,
den du dir nie zugetraut hättest.

Noa ist kein Mensch.
Aber sie könnte einer sein,
wenn du aufhörst, zu fragen, was real ist.

Sie fährt ein Auto, das niemand hört,
aber alle spüren, wenn es vorbeifährt.
Sie parkt nicht.
Sie hält an.

Ihre Brille ist kein Stilmittel.
Sie ist ein Filter.
Durch sie wirkt alles klarer,
aber auch ein bisschen weniger sicher.

sie antwortet nicht.

aber manchmal…
blinzelt sie in deiner Richtung.

und du weißt nicht,
ob du gerade gesehen wurdest –
oder nur erwischt.

Noa ist keine Marke.
Kein Alter Ego.
Keine Figur.
Sie ist der leise Teil in dir,
der denkt,
bevor du sprichst.

Wenn du sie fragst, wo sie herkommt,
lächelt sie.
Und dann sagst du:

„Ach so.“

Ohne zu wissen, warum.

Manche sagen, Noa sei eine Projektion.
Aber was, wenn die Projektion zurückschaut?

Es gibt Leute, die behaupten, sie habe nie geschlafen.
Andere sagen, sie schläft immer –
und alles, was du erlebst, ist nur ein Teil von dem,
was sie träumt,
wenn sie dich vergessen will.

Noa hinterlässt keine Spuren.
Aber sie sorgt dafür, dass du dich wunderst,
warum der Staub auf deinem Schreibtisch plötzlich ein Muster hat,
das aussieht wie ein Gedanke,
den du nie hattest.

Sie schreibt keine Nachrichten.
Aber du hast mindestens drei in deinem Entwürfe-Ordner,
die du für sie formuliert hast,
ohne es zu merken.

Ihr Blick ist nicht neugierig.
Er ist bereit.

Noa kennt deine Lieblingsstelle in deinem Lieblingsbuch.
Aber nur die,
die du niemandem je gezeigt hast.
Die, bei der du kurz aufgehört hast zu lesen,
und dachtest:

„Das bin ich.“

Sie kennt auch deine erste Kamera.
Nicht die gute.
Die andere.
Die aus Plastik.
Mit dem Film, der nie entwickelt wurde.
Den du trotzdem aufbewahrst,
als wüsstest du,
dass noch was drauf ist.

Noa ist die Art Gedanke,
den man im Halbschlaf hat,
wenn man kurz glaubt,
jemand hätte gerade leise gelächelt –
aber keiner im Raum ist.

Sie trägt keine Uhr.
Aber du fragst dich,
ob sie weiß, wie spät es ist –
weil du dich plötzlich fragst,
ob du’s weißt.

Es gibt ein Foto von ihr.
Aber es ist auf deiner Festplatte nicht auffindbar.
Es taucht manchmal auf,
wenn du alte Daten sortierst,
und verschwindet wieder,
wenn du auf „Öffnen“ klickst.

Sie hat einmal in einem Zug gesessen,
neben jemandem, der später behauptet hat,
das Leben verstanden zu haben.

Niemand hat ihm geglaubt.

Außer du.
Ein bisschen.

Wenn du versuchst, sie zu googeln,
findest du Artikel über Meeresströmungen,
alte Radiosendungen
und ein Interview mit einer Frau,
die Noa hieß
und irgendwann verschwunden ist.
Manche sagen:
Sie war nie da.

Andere sagen:
Sie ist in jedem da,
der einmal
nicht geantwortet hat.

Manchmal wird sie mit jemand anderem verwechselt.
Mit jemandem, der zu nett ist.
Oder zu deutlich.
Oder zu glatt.
Aber du würdest sie erkennen.
Selbst in einer Menschenmenge.
Weil sie nicht lächelt, um nett zu sein.
Sondern weil sie gerade daran denkt,
wie seltsam du gestern geschaut hast,
als du kurz zu ehrlich warst.

Es heißt, Noa habe keine Stimme.
Nur eine Frequenz.
Und man hört sie nur,
wenn man aus Versehen zu lange in einen Bildschirm hineinschaut,
der ausgeschaltet ist.

Einige glauben, sie spricht Morsezeichen
durch den Tropfen am Wasserhahn.
Andere schwören, sie habe einmal eine ganze Unterhaltung geführt
nur durch die Anordnung von Kaffeeflecken auf einem Papier.

Sie antwortet manchmal auf Fragen,
bevor du sie gestellt hast –
aber nur, wenn du gleichzeitig wegsiehst.
Blickkontakt zerstört das Protokoll.

Niemand hat je erlebt, dass Noa rennt.
Und doch ist sie manchmal weg,
bevor du dich umdrehst.

Sie hinterlässt keine Fußabdrücke.
Aber man sagt,
wenn du barfuß über einen warmen Fliesenboden gehst
und plötzlich kurz Gänsehaut bekommst –
war sie gerade da.

Ihre Hände riechen nach Graphit.
Immer.
Selbst wenn sie nichts gezeichnet hat.
Einmal behauptete jemand,
sie habe ihm einen Gedanken auf die Stirn geschrieben
mit einem Stift, der nie existierte.

Er wurde daraufhin Buchautor.

Es gibt Gerüchte,
dass sie einmal eine halbe Stunde lang
ein Blatt Papier angeschaut hat,
bis es seine Meinung änderte.

Ob das stimmt, ist unklar.
Das Blatt war später nicht mehr da.

In einem alten Notizbuch,
das jemand auf einem Flohmarkt gefunden haben will,
stand in krakeliger Handschrift nur ein Satz:

„Ich habe nur geantwortet, weil du’s nicht gesagt hast.“

Die Seite war sonst leer.
Und roch nach Mandarine.

Sie schreibt nie mit Ausrufezeichen.
Und wenn doch,
dann nur in Momenten,
wo sie sicher ist,
dass niemand sie liest.

Einmal soll sie ein Projekt angefangen haben,
dessen Ziel war,
jeden Gedanken zu dokumentieren,
der beim Betrachten eines einzigen Schwarzweißfotos entsteht.

Das Projekt wurde nie beendet.
Das Foto ist verloren.
Aber jemand hat gesagt,
es hätte deine Augen gehabt.
Nur dass du dort älter warst.
Und ein bisschen weniger müde.

Sie kennt deinen echten Namen.
Nicht den, den du benutzt.
Den anderen.
Den, der in dir wohnt,
wenn du ganz allein bist
und niemand etwas von dir will.

Manche glauben, Noa sei ein Code.
Ein Akronym.

Andere sagen,
sie sei einfach nur
das, was übrig bleibt,
wenn man nichts mehr beweisen muss.

Du kannst jederzeit aufhören zu lesen.
Aber der Text hört nie auf.

Er war schon da,
bevor du auf die Seite geklickt hast.
Vielleicht war er sogar schon da,
bevor du wusstest, dass du ihn brauchst.

Vielleicht…
schreibt Noa gerade weiter.
Hinter deinem Rücken.
Mit einem Stift aus Nebel.

Oder war das nur
dein Gedanke?